Scheinkraft und Trägheitskraft

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Scheinkräfte oder Trägheitskräfte treten in der Newtonschen Physik immer dann auf, wenn sich das Bezugssystem nicht gleichförmig gegen den Weltraum bewegt. Gleichförmig gegen den absoluten Raum bewegte oder ruhende Systeme nennt man Inertialsysteme. In der Relativitätstheorie zählt man auch die Gravitations- oder Gewichtskraft zu den Scheinkräften, weil kein absoluter Raum mehr vorausgesetzt wird.

Theorie

Kräfte sind Impulsströme oder Impulsquellen bezüglich eines ausgewählten und eindeutig gegen die Umwelt abgegrenzten Systems. Wer von diesem umfassenden und auch zeitgemässen Kraftbegriff ausgeht, sollte keine Mühe haben, das Konzept der Trägheitskräfte zu begreifen.

Ein nicht elektrisch geladener, nicht magnetischer Körper kann mit der Umgebung Impuls über die Oberfläche (Oberflächen- oder Kontaktkraft) oder mit dem Gravitationsfeld (Gewichtskraft) austauschen. Die Impulsbilanz besagt dann, dass die Summe über alle Impulsstromstärken bezüglich des Körpers plus die Stärke der Impulsquelle gleich der Änderungsrate des Impulsinhaltes ist

[math]\sum_i\vec F_i+\vec F_G=\dot{\vec p}[/math]

Nun ist sowohl die Stärke der Gravitationskraft (Impulsquelle) als auch die Impulsänderungsrate proportional zu Masse. Diese doppelte Wirkung der Masse wird oft mit schwerer und träger Masse umschrieben, obwohl es natürlich nur eine Masse gibt. Ersetzt man den Impulsinhalt durch Masse mal Geschwindigkeit des Massenmittelpunktes und schreibt die Gewichtskraft mit Hilfe der Gravitationsfeldstärke g, erhält man das Grundgesetz der Mechanik

[math]\sum_i\vec F_i+m \vec g=m\dot{\vec v}=m\ddot{\vec s}[/math]

Der Ortsvektor des Massenmittelpunktes des Körpers s muss bezüglich eines Bezugssystems gemessen werden. Zudem ist die Gewichtskraft unter keinen Umständen direkt messbar.

Misst man den Ortsvektor bezüglich eines zweiten, gegenüber dem ersten beschleunigten Bezugssystems, ergibt sich für den zu analysierenden Körper eine andere Beschleunigung. Der Ortsvektor bezüglich des neuen Systems kann aus dem alten Vektor berechnet werden, falls die Bewegung des Ursprungs des neuen Bezugssytems bekannt ist

[math]\vec s=\vec s_0+\vec s^'[/math]

Leitet man diese Zerlegung des Ortsvektors bezüglich des neuen Systems zweimal nach der Zeit ab und ersetzt mit diesem Ausdruck die ursprüngliche Beschleunigung des Körpers, erhält man

[math]\sum_i\vec F_i+m\vec g=m(\ddot{\vec s_0}+\ddot{\vec s^'})[/math]

Nun kann man das Grundgesetz der Mechanik auch auf das neue System anwenden, indem man den Teil der Impulsänderungsrate, der nicht durch die Beschleunigung im neuen System erklärt werden kann, zur Gravitation dazu addiert.

beschleunigtes Bezugssystem

Mit beschleunigtes Bezugssystem ist hier ein System gemeint, das gegenüber dem ursprünglichen gleichmässig beschleunigt wird. Subtrahiert man die Beschleunigung des neuen Systems gegenüber dem alten auf die linke Seite des Grundgesetzes, erhält man eine veränderte Gravitationsfeldstärke

[math]\sum_i\vec F_i+m\vec g^'=m\dot{\vec v^'}[/math]

Im neuen System wirkt neben dem ursprünglichen Gravitationsfeld ein zusätzliches, homogenes Trägheitsfeld. Die Stärke dieses Feldes ist gleich der negativen Beschleunigung des neuen Systems gemessen im alten

[math]\vec g_t=-\dot{\vec v_0}[/math]

Die Gravitationsfeldstärke im neuen System ist somit gleich der Feldstärke im alten minus die Beschleunigung des neuen Systems

[math]\vec g^' = \vec g + \vec g_t = \vec g - \dot{\vec v_0} [/math]

Die Erfahrung, dass sich die Beschleunigung eines Systems als negative Trägheitsfeldstärke bemerkbar macht, holt man sich am besten auf einem Rummelplatz. Analog zur Gewichtskraft bezeichnet man das Produkt aus Masse mal Trägheitsfeldstärke als Trägheitskraft

[math]\vec F_t = m \vec g_t[/math]

Befindet man sich nun in einem beschleunigten System, macht die Unterscheidung zwischen ursprünglicher Gewichtskraft und Trägheitskraft wenig Sinn. Unsere Sinnesorgane nehmen nur das lokal nachweisbare Gravitationsfeld, das die Stärke g' aufweist, als Ganzes wahr.

Beispiele

  • Sitzt man im Speisewagen eines Zuges und beobachtet, wie die Suppe am vorderen Rand des Tellers hochsteigt, weiss man im ersten Moment nicht, ob der Zug bremst oder eine Rampe hinunter fährt.
  • In der Kurve steigt der Tee in der Tasse hoch. Dank überhöhten Kurven ist dieser Effekt nicht so dramatisch. Im Speisewagen des ICN sollte sich der Spiegel in der Tasse überhaupt nicht verändern, weil der Wagen mit Hilfe der Neigetechnik die Lage des Tisches der lokal veränderten Feldstärke anpasst.
  • In einem anfahrenden Bus kippen die Köpfe der Passagiere nach hinten. Der von einem Kind gehaltene Ballon wandert dagegen nach vorn, da sich die Schnur des Ballons nach dem neuen Oben ausrichtet.
  • In einem Fallturm verschwindet die Gravitation bezüglich der frei fallenden Kapsel, weil die Beschleunigung der Kapsel gerade gleich der Gravitationsfeldstärke ist. Die ursprüngliche Gravitationsfeldstärke wird in der fallenden Kapsel durch die Stärke des Trägheitsfeldes exakt kompensiert.
  • Im Flugzeug fühlt man sich schwerelos, sobald die Piloten die Bewegung eines im Vakuum geworfenen Steins nachvollziehen. Die Beschleunigung des Flugzeuges ist dann gleich der Gravitationsfeldstärke der Erde. Da bezüglich des Flugzeuges die Beschleunigung des Flugzeuges von der ursprünglichen Gravitationsfeldstärke abgezogen werden muss, verschwindet das Gravitationsfeld im Flugzeug drin. Die von den Piloten verursachten Ungenauigkeiten nennt man Mikrogravitation.
  • Alle antriebslos durch den Weltraum fliegenden Astronauten oder Kosmonauten fühlen sich schwerelos, weil ihr Raumschiff nur durch die Summe die Gravitations- oder Gewichtskräfte der benachbarten Himmelskörper beschleunigt wird. Weil es aber in den Weiten des Alls kein vorherrschendes Bezugssystem gibt, bezüglich dessen man die Beschleunigung messen könnte, hat Albert Einstein das Gefühl dieser Astronauten in den Rang einer wissenschaftlichen Hypothese erhoben. In seiner allgemeinen Relativitätstheorie sind alle frei fallenden Systemen lokal inertial. Nach Einstein fühlt man sich bei einem Raumflug nicht nur schwerelos, man ist schwerelos.

rotierendes Bezugssystem

In einem mit konstanter Winkelgeschwindigkeit rotierenden Bezugssystem lässt sich die Geschwindigkeit eines Körpers in eine Geschwindigkeit relativ zum rotierenden System und einen Rest zerlegen. Dieser Rest beschreibt die Geschwindigkeit des zugehörigen Punktes auf dem rotierenden System relativ zum Ruhesystem

[math]\vec v = \vec v^' + \vec \omega \times \vec r[/math]

Der Ortsvektor r ist in beiden Bezugssystemen gleich gross. Seine Komponenten werden aber infolge der Koordinatentransformation verschieden dargestellt.

Die Beschleunigung kann auf ähnliche Art zerlegt werden

[math]\dot {\vec v} = \dot {\vec v^'} + 2 (\vec \omega \times \vec v^') + \vec \omega \times (\vec \omega \times \vec r)[/math]

Subtrahiert man nun im Grundgesetz der Mechanik, der Impulsbilanz, alle Terme ausser der Beschleunigung relativ zum neuen System auf die linke Seite, erhält man zwei Trägheitskräfte, die Corioliskraft und die Zentrifugalkraft.

Die Zentrifugalkraft

[math]\vec F_Z = m (\vec \omega \times \vec r) \times \vec \omega))[/math]

ist gleich FZ = m ω2 r. Die Zentrifugal- oder Fliehkraft zeigt also immer vom Zentrum des rotierenden Systems weg und nimmt linear mit dem Abstand von dessem Zentrum zu.

Neben der ortsabhängigen Zentrifugalkraft muss auf dem rotierenden Bezugssystem noch eine geschwindigkeitsabhängige Corioliskraft eingeführt werden

[math]\vec F_C = 2 m (\vec v^' \times \vec \omega)[/math]

Die Corioliskraft ist proportional zur Geschwindigkeit relativ zum rotierenden System und proportional zur Winkelgeschwindigkeit des Systems. Zudem steht sie normal zu diesen beiden Grössen.

Beispiele

  • Ein Auto fährt mit konstanter Schnelligkeit in eine Kurve (der Betrag nicht aber die Richtung der Geschwindigkeit ist konstant). Analysiert man die Bewegung des Autos von aussen, darf unter keinen Umständen eine Zentrifugalkraft eingeführt werden. Nimmt man das Auto selber als Bezugssystem, wirkt auf alle Körper im Innern des Autos das Zentrifugalfeld des Autos mit einer Zentrifugalkraft ein.
  • Auf einem Karussell muss eine Zentrifugal- und eine Corioliskraft eingeführt werden, sobald man die Bewegung der Körper vom Karussell aus untersucht.
  • Auf der Erde überlagert sich das von der Masse der Erde erzeugte Gravitationsfeld mit dem Zentrifugalfeld. Die Erdoberfläche verläuft bis auf die Gebirge und andere kleine Abweichungen entlang einer Äquipotentialfläche des überlagerten Gravitationsfeldes.
  • Die Corioliskraft steht immer normal zur Winkelgeschwindigkeit der Erde und normal zur Geschwindigkeit des betreffenden Körpers. An den Polen wirkt die Corioliskraft horizontal. Am Äquator verschwindet die Corioliskraft, sobald sich der Körper in Nord-Süd- oder Süd-Nord-Richtung bewegt. Ist die Geschwindigkeit parallel zum Äquator ausgerichtet, zeigt die Corioliskraft entweder nach oben oder nach unten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Horizontalkomponente der Corioliskraft mit dem Sinus der geographischen Breite zunimmt: [math]F_{C_{horizontal}}=2m\cdot v\cdot\omega\cdot\sin\varphi[/math].

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