Kettenlinie
Eine Kette, die an den Enden befestigt wird und dazwischen herunterhängt, nimmt eine bestimmte Form an. Diese sogenannte Kettenlinie, die eigentlich den Verlauf eines ideal biegsamen, linienförmigen Seils beschreibt, hängt von der Lage der Aufhängepunkte und der Länge der Kette ab, nicht jedoch von ihrer Masse pro Längeneinheit (m*).
Das Problem der Kettenlinie wurde von Gottfried Wilhelm Leibnitz, Christiaan Huygens und Johann Bernoulli im Jahr 1690 gelöst. Diese Lösung enthielt allerdings keine Herleitung. Johann Bernoulli wird erst in seinen Lektionen für L'Hospital expliziter. Galileo Galiei, der sich schon früher mit diesem Problem beschäftig hat, glaubte, dass die Kettenlinie eine Parabel sei. Eine Parabel ergibt sich aber nur dann, wenn die Masse der Kette proportional zur Horizontaldistanz ist.
klassische Herleitung
In der technischen Mechanik geht man Probleme dieser Art nach einem standardisierten Verfahren an
- Freischneiden
- Gleichgewichtsbedingungen formulieren
- zusätzliche Annahmen und Gesetze beifügen
Das Schnittbild ist der nebenstehenden Skizze zu entnehmen. Die Bedingungen für das Gleichgewicht lauten
- x-Richtung: [math]{-}F_{1x} + F_{2x} = 0[/math]
- y-Richtung: [math]{-}F_{1y} + F_{2y} - F_G = 0[/math]
Die Gewichtskraft ist gleich Masse pro Länge m* mal Länge des Seilabschnittes ds mal Gravitationsfeldstärke g
- [math]F_G = m* ds g [/math]
Nun führen wird für die Vertikalkomponente der Kräfte eine laufende Kraftvariable Fv(x) ein und verwenden für die konstant bleibende Horizontalkomponente den Parameter Fh. Damit wird die Gleichgewichtsbedingung in y-Richtung zu
- [math]dF_v = m* g ds = m* g \sqrt{dx^2 + dy^2} = m* g dx \sqrt{1 + \frac {dy^2} {dx^2}}[/math]
oder nach einer Division mit dx und der üblichen Bezeichnung für die Ableitung nach einer Ortsvariablen
- [math]\frac {dF_v}{dx} = F_v^' = m* g \sqrt{1 + (y^')^2}[/math]
Weil das Seil oder die Kette ideal biegsam ist, muss die Kraft auf einen beliebigen Querschnitt immer normal zur Schnittebene stehen. Dies führt zu folgender Zusatzbedingung
- [math]\frac {F_v}{F_h} = \frac {dy}{dx} = y^'[/math]
Leitet man diese Bedingung noch einmal nach der Ortsvariable x ab, folgt daraus nach dem Einsetzen in die y-Gleichgewichtsbedingung die Differentialgleichung für die Kettenlinie
- [math]y^{''} = \frac { m* g }{F_h}\sqrt{1 + (y^')^2} [/math]
systemdynamische Herleitung
Durch das ideale Seil fliesst ein konstanter x-Impulsstrom gegen die x-Achse (Ipx < 0). Zusätzlich fliesst der y-Impuls von beiden Befestungsstellen ins Seil hinein und geht entsprechend der Massenbelegung ans Gravitationsfeld weg. Für die Änderung der Stromstärke des y-Impulsstroms längs des Seils gilt
- [math]dI_{py} = -m* g ds = -\mu g \sqrt{dx^2 + dy^2}[/math]
oder nach der gleichen Umformung wie oben
- [math]I_{py}^' = -m* g \sqrt{1 + (y^')^2}[/math]
Weil das Seil ideal weich bezüglich Biegung ist, kann es keinen Drehimpuls transportieren. Folglich dürfen keine Drehimpulsquellen auftreten. Die Forderung nach Quellenfreiheit führt zu einer zusätzlichen Forderung
- [math]dy I_{px} - dx I_{py} = 0[/math]
oder
- [math]\frac {I_{py}}{I_{px}} = \frac {dy}{dx} = y^'[/math]
Löst man nach der y-Komponente auf und leitet nochmals nach x ab, erhält man nach dem Einsetzen ebenfalls die Gleichung für die Kettenlinie
- [math]y^{''} = -\frac { m* g }{I_{px}}\sqrt{1 + (y^')^2} [/math]
Das Minuszeichen hat keine Bedeutung, da die Stromstärke des x-Impulses auch negativ ist.
Lösung
Die klassische und die systemdynamische Herleitung unterscheiden sich in zwei Punkten
- In der klassischen Formulierung steht der Krafpfeil normal zum Querschnitt, damit keine Biegung auftritt. In der systemdynamischen Formulierung wird aus der Biegefreiheit die Quellenfreiheit bezüglich der Grösse Drehimpuls abgeleitet.
- In der klassischen Formulierung müssen Schnittebenen eingeführt werden, damit der Kraftbegriff überhaupt Sinn macht. Die systemdynamische Formulierung geht direkt vom Impuls als mengenartige Grösse aus.
Wir gehen nun von der klassischen Schreibweise aus, übernehmen aber die Idee, dass jede Kraftkomponente die Stärke eines Impulsstromes beschreibt, aus der Physik der dynamischen Systeme. In die Gleichung, welche die Änderung der Impulsstromstärke beschreibt, setzen wir die Bedingung für die Quellenfreiheit bezüglich der Grösse Drehimpuls ein
- [math]dF_v = m* g ds = m* g dx \sqrt{1 + \frac {dy^2} {dx^2}} = m* g dx \sqrt{1 + \frac {F_v^2} {F_h^2}}[/math]
Dividiert man diese Gleichung durch die Stärke des x-Impulsstromes Fh, erhält man eine Differentialgleichung erster Ordnung für die Grösse u = Fv / Fh = dy / dx
- [math]du = \frac {m* g}{F_h} dx \sqrt{1 + (u^')^2} = \frac {1}{k} dx \sqrt{1 + (u^')^2}[/math]
Separiert und integriert liefert diese Gleichung die Lösung
- [math]arxsinh(u) = \frac {x}{k} + C = \frac {x - x_0}{k}[/math]
oder aufgelöst nach u, bzw. nach Fh