Kopernikanische Wende
In seinem Hauptwerk The Structure of Scientific Revolutions beschreibt Thomas Kuhn, einer der bedeutensten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts, die Wissenschaft als Wechselspiel zwischen Phasen der Normalwissenschaft und der wissenschaftlichen Revolutionen. Ein wichtiger Begriff ist hierbei das Paradigma. Nach Thomas Kuhn ist eine Revolution stets mit einem Paradigmenwechsel verbunden. Paradigmen, die durch eine Revolution getrennt sind, bezeichnet Kuhn als inkommensurabel, nicht mit gleichem Mass messbar. Ein für die Entwicklung der Wissenschaft zentraler Paradigmawechsel hat mit der Ablösung des geozentrischen durch das heliozentrischen Weltbild stattgefunden. In Verallgemeinerung dieser wissenschaftlichen Revolution kann man nun jeden grundlegenden Wechsel des Standpunkts oder des Blickwinkels als Kopernikansiche Wende bezeichnen.
Die Physik der dynamischen Systeme, auch Systemphysik genannt, basiert auf dem Paradigmawechsel, den der Karlsruher Physikkurs, schon vor Jahrzehnten vollzogen hat. Der Wechsel betrifft die Basisbegriffe der Physik und ist deshalb fundamental.
Rolle der Energie
Historisch ist die Energie erstmals in der Mechanik als "bewegende Kraft" in Erscheinung getreten. Beim Gebrauch des Wortes "treibende" oder "bewegende" Kraft hat man jedoch nicht immer zwischen der kinetischen Energie und dem Impuls unterschieden. Die analytischen Formulieren der Mechanik von Lagrange und Hamilton haben die Energie zu einer zentralen Funktion der Mechanik gemacht, aus der die Bewegungsgesetze abgeleitet werden können (doch nicht jede Lagrange-Funktion lässt sich als Energie eines Systems interpretieren). Parallel zur Entwicklung der Mechanik ist in der Thermodynamik mit dem 1. Hauptsatz die Äquivalenz von mechanischer Energie und Wärme postuliert worden. Mechanische Energie, auch Arbeit genannt, und thermische Energie, nun Wärme geheissen, sind so zu Austauschformen der gleichen physikalischen Grösse, der Energie, geworden. Doch schon 50 Jahre später hat Albert Einstein mit der Äquivalenz von Masse und Energie letztere als eigenständige Grösse abgeschafft. Die Masse-Energie wird heute nur noch als eine der vier Komponenten des Masse-Impuls-Vektors der Raumzeit gesehen. Im täglichen Sprachgebrauch orientieren wir uns auch heute noch an der Formulierung des 1. Hauptsatzes.
Der Karlsruher Physikkurs hat dieser Entwicklung Rechnung getragen und ausgehend von der Gibbsschen Fundamentalform das didaktische Konzept des Energieträgers entwickelt. Die Systemphysik geht noch einen Schritt weiter und unterscheidet zwischen dem zugeordnetem Energiestrom und der Prozessleistung. Der Energiestrom ist eine reine Buchhaltungsgrösse, die vor allem bei der Energiebilanz Verwendung findet. Die Prozessleistung ist die Energie, die längs eines Stromes umgesetzt wird. Damit stehen zwei Leistungsbegriffe bereit, einer für die Speicher und einer für die Ströme.
Lokal lassen sich die beiden Leistungsbegriffe klar unterscheiden. Ordnet man einer Stromstärke einer Menge über das Potenzial eine Energiestromdichte zu
- [math]\vec j_W=\varphi\vec j_M[/math]
spaltet die Energiebilanz (Kontinuitätsgleichung) den Energietransport in zwei Teile auf
- [math]0=\dot\varrho_W+div(\vec j_W)=\dot\varrho_W+grad(\varphi)\cdot\vec j_M+\varphi div(\vec j_M)[/math]
Der erste Term beschreibt die lokale Änderungsrate, der zweite Term die Energie, die längs des Stromes lokal frei gesetzt wird und der dritte die Energie, die zusammen mit der Menge lokal zu- oder abnimmt. An einem beliebigen Punkt nimmt die Energie zu, weil die mit Energie "beladene" Menge grösser wird (dritter Term) oder der Mengenstrom Energie freisetzt (zweiter Term).