Gutachten der DPG

Aus SystemPhysik

Sachverhalt

Am 12. Februar 2013 hat die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) ein "Gutachten" über den Karlsruher Physikkurs (KPK) verfasst und auf ihrer Webseite aufgeschaltet. Dieses "Gutachten" wurde von erbitterten Gegnern des KPK initiiert und sehr wahrscheinlich auch verfasst. Dementsprechend hart ist auch das Fazit verfasst

Version vom 12. Februar 2013: Der KPK ist als Grundlage eines physikalischen Unterrichts ebenso ungeeignet wie als Leitlinie zur Formulierung physikalsicher Lehr- und Bildungspläne. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft rät mit allem Nachdruck davon ab, den KPK in der physikalischen Ausbildung zu verwenden.

Version vom 28. Februar 2013: Der KPK ist als Grundlage eines physikalischen Unterrichts ebenso ungeeignet wie als Leitlinie zur Formulierung physikalsicher Lehr- und Bildungspläne. Wir empfehlen der Deutschen Physikalische Gesellschaft, mit allem Nachdruck dafür einzutreten, dass der KPK nicht in der physikalischen Ausbildung verwendent wird.

Vergleicht man die beiden Versionen und berücksichtigtd dabei, dass Vorstandsmitglieder gleichzeitig als "Gutachter" gewirkt haben, wird sofort klar, welch abgekartetes Spiel da getrieben worden ist. Im Gutachten werden drei Punkte aus dem KPK aufgegriffen und kritisiert:

  1. Begriff des Impulsstromes in der Mechanik
  2. Entropie und Wärme in der Thermodynamik
  3. Magnetische Ladungen und der Begriff des Vakuums in der Elektrodynamik

In einem weiteren Punkt wird noch die mangelnde Anschlussfähigkeit des KPK bezüglich eines technisch oder naturwissenschaftlich ausgerichteten Studiums moniert. Weil die Systemphysik nur von den ersten beiden Punkten betroffen ist, werden nachfolgend auch nur die zwei Punkte kritisch hinterfragt.

Impulsbilanz

Der Impuls ist eine vektorwertige mengenartige Grösse, die lokal bilanzierbar ist. Nun kann Impuls durch die Materie (leitungsartig), über Felder (feld- oder strahlungsartig) sowie zusammen mit Materie (konvektiv), transportiert werden. Den Impulsaustausch zwischen Materie und Felder beschreibt man mit Quellen und Senken. Betrachtet man ein Stück Materie, das mit dem Gravitationsfeld in Kontakt steht, besagt die lokale Impulsbilanz, dass die Divergenz der leitungsartigen plus die Divergenz der konvektiven Impulsstromdichte plus die Änderungsrate der Impulsdichte gleich der gravitativen Impulsquellendichte ist

[math]j_{p_{ij,j}}+j_{{p}_{ij,j}}^{conv}+\varrho_{p_{i,t}}=\sigma_{p_i}[/math]

i = x, y, z mit der Einstein-Notation, wonach über gleiche Indices zu summieren ist und eine Komma vor dem Index die partielle Ableitung bedeutet. Die negative, leitungsartige Impulsstromdichte ist der Spannungstensor. Die konvektive Impulsstromdichte ist Massendichte mal das Tensorprodukt der Geschwindigkeit, die Impulsdichte ist Massendichte mal Geschwindigkeit und die Impulsquellendichte ist Massendichte mal Graviatationsfeldstärke

[math]-\sigma_{ij,j}+(\varrho v_iv_j)_{,j}+(\varrho v_i)_{,t}=\varrho g_i[/math]

Als Nebenbedingungen kann man noch die Massenbilanz formulieren

[math](\varrho v_j)_{,j}+\varrho_{,t}=0[/math]

und in die Impulsbilanz einfügen

[math]-\sigma_{ij,j}+\varrho v_jv_{i,j}+\varrho v_{i,t}=\varrho g_i[/math]

Ersetzt man nun noch den Spannungstensor mit Hilfe des linear-viskosen Materialgesetzes, erhält man die Navier-Stokes-Gleichung.

Die lokale Impulsbilanz kann nun bezogen auf ein raumfestes oder ein materiefestes Bilanzgebiet aufintegriert werden. Nimmt man ein materiefestes Bilanzgebiet und integriert die lokale Bilanz über das Volumen eines Körpers, erhält man nach Anwendung des Satzes von Gauss die Impulsbilanz bezüglich dieses Körpers

[math]\dot{\vec p} = m\dot{\vec v}_{MMP}=\vec{F_{Res}}^{OF}+\vec{F_G}[/math]

Die Impulsänderungsrate ist gleich Mass mal Beschleunigung des Massenmittelpunkts, die resultierende Oberflächenkraft ergibt sich aus dem Spannungstensor durch Integration über die ganze Oberfläche, der konvektive Impulsstrom verschwindet und die Gewichtskraft ist gleich der Gravitationsfeldstärke mal das Volumenintegral über die Massendichte. Oft tauscht ein Körper gleichzeitig mit mehreren andern Körpern Impuls aus. Der Spannungstensor ist dann stückweise über jede einzelne Berührfläche zu den Nachbarkörpern zu integrieren. Die Impulsbilanz oder das zweite Newton'sche Gesetz nimmt damit folgende Form an

[math]m\dot{\vec v}_{MMP}=\sum_i \vec{F_i}+\vec{F_G}[/math]

Aufgrund dieser Zusammenhänge wird eine Oberflächenkraft oft als Flächenintegral über den Spannungstensor definiert, wobei in der Regel über eine offene Teilfläche zu integrieren ist. Orientiert man die Schnittfläche auf die andere Seite, also bezüglich des Nachbarkörpers, erhält man die Reaktionskraft im Sinne des dritten Newton'schen Gesetzes.

Impulsstrom und Kraft

Nimmt man den Impuls als primäre, vektorwertige, mengenartige Grösse, erscheinen die Newton'sche Gesetze als anitquierte und umständliche Formulierung eines Bilanzgesetzes für Spezialfälle. Themen wie die Relativitätstheorie, die Mechanik offener Systeme (Rakete, Strahltriebwerk, Turbinen und anderes) und die Impulsbilanz in der Kontinuumsmechanik können schneller und effizienter erschlossen werden, wenn man vom Impuls als Primärgrösse der Mechanik ausgeht. Zudem kann man ganz neue Darstellungsformen entwickeln wie zum Beispiel das Flüssigkeitsbild oder das Impulsstrombild. Um Impulsstrombilder zu erzeugen, muss ein raumfestes Koordinatensystem eingeführt werden, damit für jede der drei Komponenten ein eigenes Strombild gezeichnet werden kann.

Stein des Anstosses in Bezug auf den Impulsstrom ist meist die Statik: weil in der Alltagssprache Strom mit Bewegung gleich gesetzt wird, stolpert man oft über das eigene Vorurteil, wonach in einem ruhenden Körper nichts fliessen kann. Eine direkte Kopplung zwischen Strom und Bewegung existiert jedoch nur bei konvektiven Transportvorgängen. Bei leitungsartigen Transporten wie elektrischer Strom im Kupferdraht, Wärmeleitung durch eine Wand oder Drehimpulstransport durch eine Antriebswelle ist in Stromrichtung direkt keine Bewegung im Sinne der Mechanik feststellbar. Schwingen zum Beispiel zwei über eine Feder verbundene Gleiter im Gegentakt auf der Luftkissenbahn hin und her, fliesst ein Impulswechselstrom durch die Feder, ohne dass sich diese in die eine oder die andere Richtung bewegt (Video: Gibt es Impulsströme)

Die Gutachter der DPG haben etwas Mühe mit der korrekten Begriffsbildung. Ein Strom bezeichnet den Transportvorgang einer mengenartigen Grösse durch den Raum oder ein Bauteil. Eine Stromdichte misst die lokale Stärke dieses Transports (z.B. Impuls pro Zeit und pro Fläche). Die Stromstärke beschreibt die pro Zeiteinheit durch eine orientierte Referenzfläche transportierte Menge. Die Stromstärke berechnet sich aus der Stromdichte durch Integration über die meist offene Referenzfläche. Eine Impulsstromstärke ist deshalb gleich dem Integral des Spannungstensors (negative leitungsartige Impulsstromdichte) über eine meist offene Referenzfläche. Ist die Referenzfläche Teil eines ausgewählten Körpers, nennt man die Impulsstromstärke auch Kraft auf den Körper.

Flüssigkeitsbild, Impulsstrombild und Kraft- oder Schnittbild sind drei mögliche Darstellungsformen für mechanische Prozesse. Mit diesen drei Bildern kann man viele Vorgänge umfassend und widerspruchsfrei erklären (Video: drei Biler). Leider sind im deutschen Sprachraum viele Physik-Lehrbücher auf dem Markt, bei denen bei einfachen Beispielen die Kräfte sogar falsch eingezeichnet sind (Video: Perversion in der Physik).

"Gutachten"

Eine umfassende Analyse des "Gutachtens" lohnt sich kaum, weil es mit zweifelhafter Absicht und ziemlich stümperhaft verfasst worden ist. Die nachfolgende Liste führt ein paar Punkte zum Thema Impulsstrom auf. Die Aussagen der Experten sind kursiv geschrieben.

  • Verwendung von Impulsstrom anstelle von Kraft führt auf widersprüchliche z.T. falsche Aussagen. Aufgrund der in die Bilder des KPK hinein gezeichneten Kraftpfeile und anhand von Büchern und Skripten, welche einzelne Experten heraus gegeben haben, muss man annehmen, dass die Experten selber den Kraftbegriff der Mechanik nicht verstanden haben.
  • Wenn man die Lage des Koordinatensystems nicht kennt, kann man auch nicht die Richtung des KPK-Impulsstroms festlegen. Impulsströme sind bildhafte Darstellungen des Impulstransportes durch das Material. Weil der Impuls eine vektorwertige Grösse ist und folglich die Impulsstromdichte als Tensor 2. Stufe geschrieben werden muss, braucht es für die konkrete Darstellung der Impulsströme ein Koordinatensystem.
  • Aber da zu jeder Kraft auch eine entgegengesetzte gleich starke Gegenkraft gehört (actio = reactio) und diese beiden vollständig symmetrisch sind, können Kraftmesser prinzipiell keine Richtung auszeichnen. Neuere Kraftmesser können Zug- und Druckkräfte messen. Also ist die Richtung des Impulsstromes eindeutig messbar (relativ zum Koordinatensystem). Der unangebrachte Hinweis auf das dritte Newton'sche Gesetz lässt den Verdacht aufkommen, dass die Experten auch dieses Gesetz nicht verstanden haben. Der Verdacht erhärtet sich, wenn man das Papier "Ergänzende Bemerkungen zum DPG-Gutachten über den Karlsruher Physikkurs" desselben Gremiums beizieht (Video: Wechselwirkungsprinzip und die DPG).
  • Damit kann auch die Richtung des KPK-Impulsstroms willkürlich, d.h. unabhängig vom Geschehen im System allein durch eine neue Wahl des Koordinatensystems verändert werden. Das gilt nur für die Darstellung der drei Komponenten, nicht aber für die zugrunde gelegte Theorie. Das lokale Hooke'sche Gesetz, das die Impulsstromdichte mit dem Dehnung verknüpft, lässt sich koordinatenfrei formulieren.
  • Deshalb ist die vom KPK eingeführte Richtung des Impulsstroms eine willkürlich festgelegte Konvention, der keine objektive Realität zukommt: Es gibt diesen Strom in der Natur nicht. Die Abhängigkeit der Darstellungsform vom Koordinatensystem und letztendlich auch vom Bezugssystem berechtigt noch lange nicht, dem Impulsstrom jegliche Existenz abzusprechen. Bei naturwissenschaftlich begründeten Grössen geht es ja nicht um "Realität", sondern um Konsistenz, Kohärenz und Relevanz. Ein kurzer Blick in ein neueres Lehrbuch zur Kontinuumsmechanik hätte genügt, um zu sehen, dass konvektive und leitungsartige Impulsstromdichten etablierte Begriffe sind.

Die Experten der DPG haben im Teil "Impulsstrom" mit ihren Einwänden gegen den KPK nur gezeigt, dass sie selber nichts, aber auch gar nichts von Mechanik verstehen.

Wärme

Die Entropie ist die Basismenge der Thermodynamik. Ohne Entropie kann man weder Wärmepumpen noch Wärmekraftmaschinen wirklich verstehen. Der KPK führt deshalb die Entropie zu Beginn der Wärmelehre ein und verknüpft diesen Begriff direkt mit dem Vorwissen der Schülerinnen und Schüler. Diese didaktisch motivierte Begriffsbildung wird auch an der ZHAW bei der Ausbildung von Ingenieuren mit grossem Erfolg angewendet. Weil aufgrund einer historischen Fehlentwicklung in der Thermodynamik mit Wärme die thermisch ausgetauschte Energie gemeint ist, versuchen die Experten der DPG dem KPK daraus einen Strick zu drehen. Dabei schrecken sie auch vor plumpen Verdrehungen nicht zurück, wie das folgende Zitat zeigt: Aber deshalb ist Entropie noch lange nicht der Wärme gleichzusetzen, auch keiner „umgangssprachlich“ so bezeichneten. Beide haben verschiedene Maßeinheiten, können also schon deshalb nicht gleich sein. Wärme misst man in Joule, Entropie in Joule/Kelvin. Wenn man das umgangssprachliche Wort Wärme mit Entropie gleichsetzt, dann hat dieser Wärmebegriff die Einheit Joule/Kelvin. Wenn man das umgangssprachliche Wort Wärme für die thermische Austauschform der Energie nimmt (offizielle Definition), dann hat Wärme die Einheit Joule. Eine ähnliche Situation findet man beim Kraftbegriff. Helmholtz hat das Wort "Kraft" für die Energie verwendet (Über die Erhaltung der Kraft). Nach der Logik des Expertengremiums der DPG müsst man Hermann von Helmholtz aus dem Olymp der Physik vertreiben, weil Kraft in Newton gemessen wird. Der KPK verwendet das Wort Wärme nur im einführenden Kapitel zur Wärmelehre. Danach ist nur noch von Entropie und Energie die Rede. Ausser der Systemphysik, die auf dem KPK aufbaut, gibt es weltweit keinen Physikkurs, der die Struktur der Thermodynamik so klar und einfach vermittelt.

Die Einwände der Experten im Einzelnen widerlegen zu wollen, wäre reine Zeitverschwendung. Die völlig antiquierte und zum Teil falsche Argumentation der Experten (Hauptsätze, Entropie nur als Zustandsgrösse, Ungleichungen bei irreversiblen Prozessen, fehlende Bilanzgleichung) lässt den Verdacht aufkommen, dass an deutschen Universitäten Thermodynamik von Professoren der Physik unterrichtet wird, die selber noch nie auf diesem Gebiet tätig gewesen sind. Dieter Meschede, einer der Experten der DPG, ist Herausgeber von Gerthsen Physik. Analysiert man dort die Begriffsbildung in Bezug auf Mechanik und Thermodynamik, begreift man auch, wieso nach der Veröffentlichung des "Gutachtens" kein Aufschrei des Entsetzens durch die deutsche Gemeinschaft der Physiker gegangen ist. Viele Physiker haben in ihrem Studium in Mechanik und Thermodynamik nur gerechnet und nichts begriffen. Das ist nicht weiter schlimm, weil sich die Physik heute mit ganz anderen Themen beschäftigt. Schlimm ist nur, dass die Physiker immer noch davon überzeugt sind, dass sie die Grundlagen für Ingenieure, Naturwissenschaftler und Ärzte kennen und vermitteln können (Sheldon-Cooper-Syndrom).

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